Erwacht durch einen einzigen Regentropfen
Von Zen-Meister Hinnerk Syobu Polenski
Ihr wollt erwachen, erleuchtet sein? Ihr wollt die Welt, das Leben so sehen, wie es wirklich ist? Dann gebe ich euch ein paar ganz praktische Hinweise. Einer meiner Schüler hatte vor einigen Wochen plötzlich eine tiefe Einsicht von vollkommener Zeitlosigkeit. Alles um ihn herum blieb plötzlich stehen. Alles verharrte in der Ewigkeit.
Winkt nicht ab und meint: „Ja, da hat einer eben Glück gehabt“. Ich sage euch: Diese Zeitlosigkeit findet auch statt, wenn es regnet. Und die Möglichkeit im Regen zu sein, hat jeder von euch. Also sind die Chancen für alle gleich groß, zu erwachen. In jedem Regen gibt es diesen Moment, in dem alles Leben innehält in vollkommener Zeitlosigkeit.
Stellt es euch einmal vor eurem inneren Auge vor: ein Regentropfen braucht eine Ewigkeit bis er auf dem Boden fällt, die Erde berührt und sich mit ihr vereinigt. Ein einziger Regentropfen, der auf den Boden fällt - ein kleines Geräusch, ein zartes Platschen - kann dazu führen, dass ihr aus eurem Traum erwacht, aus einem Traum aufwacht, in dem wir alle seit Jahrtausenden verharren. Auf einmal, plötzlich, in diesem Moment ist alles offen und weit.
Wasser fließt, es hat die Kraft des Tao. Bergbewohner kennen diese Kraft, die sich auch zeigt in den Seen in vielen tausend Metern Höhe. Eine gewaltige Kraft von tausenden von Tonnen Wasser liegt dort. Und darin steckt ein Potenzial von gewaltiger Macht, die zum Meer drängt. Und eines Tages „läuft der See über“, dann fließt sein Wasser den Berg hinunter in einen Fluss und weiter bis ins Meer. Im Meer wiederum verdunstet Wasser durch die Kraft der Sonne, vereinigt sich mit der Luft, steigt hoch, bildet Wolken und fällt als Regen wieder auf die Erde. Ein ewiger Kreislauf.
Das was diesen Kreislauf in Bewegung hält, ist die Kraft des Tao. Diese Kraft ist identisch mit der Kraft des menschlichen Potenzials. Und das Bewusstsein dieser Kraft und dieser Energie führt dazu, dass sich der Weg eines Tages auch für euch plötzlich öffnet - vielleicht nachdem jemand von euch das leise Geräusch des tropfenden Regens auf die Erde hört.
Achtsamkeit ist kein Konzept
Achtsamkeit ist unendliche Offenheit
Die Kraft des Bewusstseins zu spüren, ist das Ergebnis von Achtsamkeit. Achtsamkeit ist aber kein Konzept, in dem ich beobachte, was ich tue oder sogar das Beobachten beobachte, indem ich das eine Denksystem durch ein anderes ersetze. Achtsamkeit ist die unendliche Offenheit, in der jeder Regentropfen - wie in Zeitlupe - inne hält, alles innehält, und die Illusion von Zeit durchbrochen wird. Und in dem Moment, in dem der Tropfen den Boden berührt, ist die Vereinigung da. In diesem Moment seid ihr ganz da – ohne zu denken, ohne zu bewerten, ohne zu fühlen – das ist einfach nur da sein.
Genau aus diesem Grunde hat auch der Tee, das Teetrinken in Japan eine so besondere Bedeutung. Die Zubereitung von Tee und das Trinken von Tee hat eine große Tiefe. Es ist so, dass ich die Schale in der Hand halte, ein kleines bisschen Wasserdunst aufsteigen sehe, den Geruch von Wiesen und Heu rieche und der Moment, indem ich den Tee trinke. Oder der Moment, nachdem ich getrunken habe, ich den Tee aber immer noch spüre - das alles „gefriert“ auf einmal in einem Moment, in dem sich alles öffnet.
Der Regen ist ein Symbol von Stille und von Vereinigung des Himmels mit der Erde, von Mann und Frau, Sonne und Mond. Damit beginnt Leben. Wenn wir sitzen und üben, wenn wir den Zen Weg gehen, wenn wir inne halten - in Allem inne halten- dann öffnen wir uns für die Frage: „Was ist Leben?“
Das ist Leben
Wir entfernen uns von dem Leben, wenn wir denken, Strukturen entwickeln, Bilder und Gefühlen folgen. Das ist ein Denken, in dem wir nur unseren Erinnerungen folgen, das heißt, in der Vergangenheit sind. Wir aber gehen dem Leben entgegen, wenn wir im Moment sind, ob wir im Regen stehen und die Tropfen beobachten oder Tee trinken. Ja, auch wenn wir arbeiten. In Allem ist das Leben.Zazen ist ein von vielen Meistern entwickelter Weg, das Innehalten zu üben. Zazen bedeutet: Sitzen in Kraft und Stille. Wir halten an. In unserem ewig getriebenen Wahnsinn, in Täuschung und Verblendung, halten wir an. Und irgendwann folgt die Stille uns. Und inmitten dieser Stille hält die ganze Welt an - und der Traum ist zu Ende.
Und Erfüllung beginnt.
12.04.2013
Erwacht durch einen einzigen Regentropfen