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Der Umgang mit unheilsamen Gefühlen

Von Zen-Meister Hinnerk Polenski

Zen mit Freude und Leichtigkeit
 

Gier, Hass und Verblendung, Ablehnung, Verlangen, Verstrickung, Zweifelsucht, Furcht sind die Ursachen von Leid – das sind unheilsamen Gefühle. Der darunter liegende, tiefere Kern ist die Anhaftung und Unwissenheit. Während viele spirituelle Wege einzig und allein auf tiefe Einsicht ausgerichtet sind, die Erfahrung des absoluten Geistes in den Vordergrund stellen, steht im Mahayana-Buddhismus – aus dem Zen hervorgegangen ist - Mitgefühl und Herz an zentraler Stelle. Der Buddhismus lehrt damit einen Weg der Heilung. Daishin-Zen ist der „Weg des großen Herzens“, der die Aspekte Mitgefühl und Herz der Mahayana-Tradition einbezieht.

Wir Menschen werden in diese Welt hinein geboren, in der Liebe nie ausreicht, wir sind Krankheiten, Misserfolgen ausgesetzt, erleben Vergänglichkeit, Alter, Sterben und Tod. Gleichzeitig sind wir voller Kraft und Vitalität, Freude, Lust und Leben und beginnen diese Welt zu gestalten, erreichen tausende von Grenzen, verbunden mit tausenden von Ratschlägen, Erziehung, Verletzungen und auch tiefen Schmerzen.

Dies wird, je älter wir werden, zu einer destruktiven und explosiven Mischung an inneren Erfahrungen, Schmerzen und Verletzungen. In der Gegenwart ahnen wir kaum mehr, was uns gerade antreibt, warum wir jetzt Wut fühlen oder Ablehnung oder unbedingt diese Schokolade essen müssen. Natürlich gibt es ein System mit Regeln und festgelegten Grenzen, das die Gesellschaft anbietet. Und es gibt auch spirituelle Systeme, die beruhigen und beruhigend wirken sollen. Doch diese Systeme haben keine echte Wirkung. Erschwerend kommt hinzu, dass wir nicht wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen.

Dann erwacht im Menschen irgendwann der tiefe Wunsch nach Befreiung von seinem Leid, seiner Unwissenheit, seinen Anhaftungen. Und dann ist es ihm egal, wo er lebt, was das „höchste Wesen“ ist und welche Religion, welches System, was Glaube und Traditionen sind. Da ist einfach nur eine tiefe Sehnsucht, sich aus diesem Zweifel, aus dieser Angst, aus dieser Erschütterung, aus dem Chaos zu befreien. Wir sind müde von unserer täglichen Jagd nach Glück und Liebe. Themen wie Vergänglichkeit, Alter und Schmerz und vor allem Angst sind verdrängt, werden überhaupt nicht berücksichtigt, so als gäbe es diese Aspekte des Lebens in der Welt nicht. Und so gibt es keine Dimension für unsere Sehnsucht. Wir sehen keinen Weg, lesen ein paar Bücher zu diesem Thema und hören uns gut gemeinte Ratschläge oder Glaubensphrasen an.

Irgendwann ist dann da die innere Gewissheit, dass ich mich selber auf den Weg machen muss, wenn ich frei werden will. Denn unabhängig von Spiritualität oder intellektueller Einsicht ist es die direkte Betroffenheit des Lebens, in der ich erkenne, dass alles Schmerz ist.

Gefühle sind keine Gedanken, die beliebig verändert werden können

Der Zen-Weg ist ein Innehalten als Weg der Heilung: Wir halten inne mit der Art, in der wir bislang mit negativen, unheilsamen Gefühlen umgegangen sind. Dieses Innehalten ist ganz wichtig, denn was oft unterschätzt wird ist, dass das Gefühl kein Gedanke ist, der beliebig verändert werden kann. Ich kann nicht mit meinen Gefühlen spielen. Im Gegenteil, ich bin immer wieder betroffen und schockiert von der unmittelbaren, gewaltigen Kraft, mit der unsere Gefühle auf uns und unser Leben einwirken und so Leid verursachen.

Sich davon zu befreien, bedeutet eine Entscheidung für sich selbst und sein wahres Leben (ohne das Diktat von unheilsamen Gefühlen). Es gibt verschiedene Angebote, mit dieser Dimension menschlichen Seins umzugehen.

Als erstes muss da die Erkenntnis stehen, dass die Unterdrückung eines Gefühls die Situation eher verschlimmert. Es geht darum, zu erkennen, keine Kontrolle zu haben. Auch gehört zu diesem ersten Schritt meine Bereitschaft, meine negativen, destruktiven Gefühle nicht weiter zu legimitieren, was in unserer Gesellschaft ja relativ leicht ist durch das Wort „Gerechtigkeit“. Das alles lasse ich zunächst fallen und erkenne an, dass die Situation erst einmal so ist, wie sie ist, und ich übernehme die Verantwortung: Ja, das bin ich. Und dann im Innehalten spüre ich die Kraft dieser Gefühle, die Energien sind.

Diese Erkenntnis ist die Basis. Durch das weitere Beobachten entwickelt sich rasch die Erkenntnis, dass die Energie in mir stark ist und fließen will. Das Zentrum dieser Energie ist die sogenannte „Erdmitte des Menschen“[1], das Hara, ungefähr zwei Fingerbreit unterhalb des Bauchnabels.

Die Übung des Hara ist also die erste Übung. Im Daishin-Zen gibt es viele verschiedene Ansätze, abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse des Menschen.

Mit der Zeit, meist geht das recht schnell, bewegt sich der Fluss der Energie von oben nach unten: Sie fließt aus den Gedanken, aus dem Bewusstsein, durch den oft auch verkrampften Kopf-Schulter-Bereich, in die Region zwischen Bauch und Becken, um sich dort niederzulassen. So wird nicht nur Energie im Zentrum des Körpers konzentriert. Den Emotionen wird auf diese Art und Weise ihre Kraft entzogen.

Der geerdete Weg

Diese Basis heißt im Daishin Zen: der geerdete Weg. Die Hara-Übungen sind körperbezogen, weil sie oft mit sportlichen Betätigungen verbunden sind. Diese Körperbetonung ist sinnvoll, weil Gefühle nicht primär mental sind. Gefühle, im Buddhismus werden sie Vedaná (Sanskrit) genannt, werden sowohl durch innere Aspekte als auch durch äußere Impulse ausgelöst und beeinflusst. Das Gefühl an sich ist eine körperchemische Explosion mit einer Totalität, die physiologisch ein Ausgeliefertsein hervorruft. Deshalb scheitert jede Übung, die nur mental wirkt. Es gibt viele spirituelle Richtungen, die diese Unterscheidung nicht berücksichtigen. Doch erst wenn Energie und Körper miteinander verbunden sind und die Atem-Übung erlernt und geübt ist, beginnt der eigentliche spirituelle Weg. Der geerdete Weg ist dafür die unbedingte Voraussetzung. Der nächste wesentliche Aspekt ist Achtsamkeit. Ich muss den Ablauf, die körperlichen und psychischen Auswirkungen von unheilsamen Gefühlen erkennen.

Der „geerdete Weg“ besteht also aus der Hara-Übung kombiniert mit körperlichen Anstrengungen und atem- bzw. energetischen Aspekten, dazu kommt dann die Übung der Achtsamkeit. Als Ergebnis bleibt der Inhalt des Gefühls, es verliert aber seine unheilsame Macht. Mehr und mehr werden so die Spitzen der unheilsamen Emotionen, Vedanás abgeschliffen.

Das geerdete Herz

Die zweite Dimension ist dann das sogenannte geerdete Herz. In dieser Phase wird der unheilsame Fluss durchbrochen durch das Öffnen von Metta (Mitgefühl, Herz) im Hara, was eine Herz-Öffnung und Erdung gleichermaßen bewirkt. Das Herz alleine ist rein, unendlich und frei, aber durch unsere Entwicklung und Geschichte eingeschlossen in negativen Erfahrungen und Verletzungen. Es ist umhüllt und verdeckt.

Wenn sich dann dieses Herz öffnet, sich Mitgefühl (Maitri), Liebe (Mudita), Freude (Karuna) und Gelassenheit (Upekkha) zeigen, kann es sein, dass einen Moment lang zunächst das Gegenteil von Herz eintritt: ein gewaltiges Tremendium, ein Überwältigtsein von alten Gefühlen, eine gewaltige Welle des Schmerzes überspült den Menschen. Das ist eine schwierige Erfahrung, die viele Menschen, die einen spirituellen Weg gehen, eben ohne auf die Erdung zu achten, immer wieder machen.

Es gibt ein tiefes Geheimnis zwischen Herz und Hara, zwischen dem mittleren und unteren DanTien also. Dieses Geheimnis zu ergründen, ist der Weg des geerdeten Herzens.

In der Theorie des Buddhismus, des Mahayana gibt es die Skandhas, die fünf Bereiche der Anhaftung: Körper, Gefühl, Wahrnehmung, Willensregung, Bewusstsein. Dieses geerdete Herz entsteht genau zwischen dem Gefühl und der Willensregung, der Gestaltungsmacht. Rupa heißt der Körper, der das auslösen kann, innerlich die Sinnesorgane; Vedana ist das Gefühl, der gesamte Bereich der Gefühle, innen und außerhalb geöffnet, das erstmal da ist; und dann Samjana, der dritte Aspekt, ist die unterscheidende Wahrnehmung. Jetzt beginnt das Schlamassel. Die Wut erfährt eine Kategorie, zum Beispiel Gut und Böse, so wird plötzlich ein Mensch vor mir zu Böse, er wird entmenscht, und dann beginnt im Bereich Samskara, Willensregung, Gestaltungsmacht, an dieser Stelle unser Karma.

Der Buddha lehrt, dass nicht die Gefühle unser Karma determinieren - sondern die Willensregungen sind einzig und alleine der Aspekt der karmischen Verstrickung im Unheilsamen - oder im Heilsamen. Auf der Ebene des Samskara kommt es jetzt zur Entladung im Denken, im Sprechen und im Handeln – jetzt ist es zu spät, jetzt schreien wir jemanden an. Jetzt explodiert es, jetzt passiert es.

Dieses geerdete Herz ist genau zwischen diesen beiden Dimensionen: dem Gefühl und dieser Willensregung. Diese Ebene heißt Unterbrechung, weil sie in der Lage ist, jetzt an dieser Stelle komplett diesen Kreislauf zu durchbrechen. Der Weg dieser Übung ist nicht, dass ich sie übe und dann gelingt es mir, sondern sie ist eine lebenslange Herausforderung, zu der es für jeden Schüler, Fortgeschrittenen, Lehrer und Meister eine Grenze gibt. Denn häufig ist die Verbindung von Gefühl und körperlicher Reaktion wie ein Reflex ineinander verwoben, so dass der Zwischenraum manchmal nicht mal eine Sekunde ist. Meistens aber ist es so, dass da, wo es wirklich tief verletzend wirkt, oft viel Zeit dazwischen liegt – manchmal Minuten, manchmal Stunden, manchmal Tage, Wochen und Jahre.

Es ist die Unterbrechung des unheilsamen Flusses durch die Öffnung des geerdeten Herzens zwischen Gefühl und Willensregung auf der Ebene der Wahrnehmung. Die Voraussetzung dafür, für das geerdete Herz, ist auf der einen Seite die Übung von Hara-Samadhi, die Versenkung in die Erdmitte, die Selbstvergessenheit in die Erdmitte, und die Metta-Initiation. Metta – Mitgefühl, Herz, und auch natürlich wieder die Übung der Achtsamkeit. Der Inhalt wird durch diesen Aspekt der Unterbrechung, des geerdeten Herzens situativ durchbrochen, befriedet, kann aber jederzeit wieder aufflammen. Er hat eine eingeschränkte Nachhaltigkeit, weil es schon noch eine Wirkung entwickelt, wenn ich anfange, in diesen Prozess hinein zu gehen, was auch immer wieder ein Prozess des Scheiterns ist, wo ich merke, „mein Gott, was hab ich hier gemacht?“ Am Anfang erlebe ich in dieser Achtsamkeit den ersten Quantensprung, indem ich erkenne, was habe ich hier gerade getan? Oft kann ich die Dinge zurück drehen und sagen: „Entschuldige, es tut mir sehr leid.“ Wunderschön ist es, wenn ich es im gleichen Moment erkenne; und fortgeschritten in dem Gefühl, das sich gleichzeitig öffnet.

Das geerdete Herz hat also eine Grenze, und gleichzeitig ist es aber auch zentral, weil dieser Weg bis hierher für jeden lernbar ist. Er setzt keine große Erleuchtung, keine gewaltigen tiefen Erfahrungen voraus, sondern er ist systematisch lernbar, wenn meine Sehnsucht, meine Ausdauer und mein Wille sich darauf ausrichtet, diesen Weg zu erlernen; in ein bis drei Jahren kann ich diesen Weg, diese allererste Freiheit in mir öffnen – und das ist schon sehr viel – auch wenn ich immer wieder erlebe, dass ich in diesem auch wieder scheitere.

Der dritte Schritt dann, die dritte Möglichkeit ist die Transformation. Die Transformation mit Hilfe ideeller Buddhas, die nichts weiter sind, als eine Dimension meiner gewaltigen Größe eigener Bewusstheit, die ich in meiner menschlichen Kleinheit und Begrenztheit nicht annähernd erahne, verstehe, sondern nur in einem Sehnsuchtsband der Berührtheit spüren kann. Diese Entwicklung der sogenannten Dhyani-Buddhas im dritten und vierten Jahrhundert ist meiner Meinung nach einer der ganz großen Schritte auf dem spirituellen Weg, weil hier eine ernsthafte Heilung stattfinden kann. Auch für Menschen, die noch nicht an dem Aspekt tiefster Einsicht sind - und wir Menschen doch immer wieder unsere Grenzen in uns selbst erleben, aber hier erfahren können, dass wir mehr sind – übersteigend, deshalb nennt man sie auch die transzendenten Buddhas. Es sind keine Wesen, es sind aber auch keine Symbole, es sind Felder eigenen Geistes mit zutiefst heilsamer Wirkung. Übertragen über verschiedene Linien, unter anderem über den tibetischen Diamantweg, Vajrayana, im Shingon vorhanden, aber ebenfalls auch im Zen - sehr, sehr puristisch, zumindest in dem Zen, das mir mein Lehrer übertragen hat.

Das befreite Herz

Die Transformation mit Hilfe dieser Buddhafelder, das bedeutet eine nachhaltige Umwandlung und Erlösung tiefer unheilsamer Programme und Grundgifte in uns. Der Begriff ist das verwandelte Herz, das befreite Herz. Das bedeutet eine nachhaltige, tiefe Heilung. Die notwendige Übung und Initiation - das erfordert eine gewisse Vorübung und Erfahrung auf dem Zen-Weg – ist zuallererst einmal - und jetzt weht uns ein wenig der Wind der modernen Psychologie entgegen – eine Analyse des Grundgiftes, ein Sichtbar- und Bewusstwerden des unheilsamen Grundimpulses; und gleichermaßen in diesem Bewusstwerden, das Öffnen nämlich eines geschützten Raumes, eines entsprechenden Buddhafeldes, der Übung eines entsprechenden Buddha Elixiers und der entsprechenden Basis- und Grundübung, die dazu gehören. Das ist der Aspekt der Initiation.

Und so nähert sich an dieser Stelle auf der einen Seite die moderne Psychologie, inspiriert durch den Osten, dem spirituellen Zen- und Vajrayana-Weg an, und umgekehrt erkennen diese Wege mehr und mehr die Wichtigkeit des Sichtbar-Machenden der Psychologie. In älterer Zeit der Psychologie war es möglich, Dinge sichtbar zu machen, aber es blieb eine Hilflosigkeit angesichts dieses Sichtbaren, ein im Kreis drehen. Umgekehrt ist die Grenze spiritueller Wege, tiefe Einsicht zu haben, aber das Unsichtbare wirkt weiter, weil es nicht sichtbar ist – das Erlösen ist nur möglich durch Wahrhaftigkeit, dadurch dass es sichtbar ist. Nur das sichtbare ist erlösbar.

Sicher führt der Weg tiefer Einsicht irgendwann zur vollständigen Erlösung, aber bis da ist es ein Weg in unserer Welt. Und auf diesem Weg kann durchaus und gleichermaßen noch Altes, Unheilsames wirken in uns. Das heißt, zuerst ist es die Analyse, das Sichtbarmachen des unheilsamen Grundimpulses in mir und dann entsteht die Wahl des Elixieres entsprechend dieses Giftes. Aus der Übung dann dieses Grundelixieres entsteht die Möglichkeit der Initiation dieses Feldes des geschützten und gleichermaßen heilenden Raumes - Gier wird transformiert in Verlangen, in Sehnsucht, in Herzberührung, in Vertrauen, in Einheit, in Ankommen der Vollständigkeit. Gier wird transformiert in Liebe – oder Hass in Frieden.

Eine gute Ergänzung kann auf diesem Weg eventuell eine Trauma-Therapie, sicher und fest nach der Schule Reddemann, sein, um auf der einen Seite die Dinge sichtbar zu machen und durch diese moderne Schule eben auch schon Ansätze von geschützten Räumen zu erleben und zu erfahren. So wird die Brücke von zwei Seiten gebaut.


[1] Karlfried Graf Dürckheim: Hara, die Erdmitte des Menschen

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Teisho auf dem Rohatsu-Sesshin Dezember 2012

Dieser Vortrag als Video auf YouTube