Das Leben ist ein Geschenk
Von Zen-Meister Hinnerk Polenski
Ich will heute – zu Beginn des neuen Jahres - etwas erzählen über den Sinn eures Lebens, über die Liebe, den Wandel und das Wachstum. Ja, der Sinn des Lebens ist Wachstum, und die Erde, der Nährboden, der Dünger ist die Liebe. Schaut euch um, diese Blumen und Pflanzen um uns herum, die wachsen auch, einfach so. Die haben keine Probleme, so wie wir.
Wachstum und Veränderung! Shakyamuni Buddhas erklärte immer wieder, Leben ist Wandel. Das war eine seiner Grundaussagen. Diese hat zwei Seiten: Da ist einmal das Problem, dass wir Dinge festhalten wollen, die sich verändern. Die andere Seite ist der Weg der Wandlung, des Wachstums über das Leid hinaus. Und dieser Weg verwandelte auch Shakyamuni zu Buddha. Das ist die Veränderung. Diese tiefe Einsicht. Leben ist Wachstum. Leben ist Veränderung. Leben ist auch Vergänglichkeit. Wo liegt da der Kern? Wo liegt darin sozusagen ein Weg?
Der grundsätzliche Punkt ist der, dass wir wie diese Pflanze hier, oder die Bäume da draußen, wachsen. Der Mensch wird geboren und wächst. Aber er hört nicht auf zu wachsen, wenn er in die Pubertät kommt und man irgendwann einen Stempel bekommt, wo wir 18 Jahre alt sind. So, nun hör auf zu wachsen, nun funktioniere in der Gesellschaft und mache immer das Gleiche in einem bestimmten Schema. Nein, wir wachsen ja weiter. Und so kommt es für uns Menschen mit der Zeit zu Konflikten. Du bist 17 und fragst, was wollen die eigentlich alle von mir? Oder du bist 30 und denkst, wo geht es hin? Oder du bist 50, dann spricht man Midlife Crisis.
Ein wahrer Mensch werden
Buddha sagt: Es gibt keinen Weg zum Glück! Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, er sagt: Glück selber ist der Weg! Es gibt keinen Weg zum Glück, ihr findet da draußen nicht irgendetwas, sondern Glück ist in euch selber, wenn ihr es zulasst. Das ist der Weg. Und das ist auch Wachstum. Das ist wie Meister Rinzai, der Begründer unseres Ordens, sagt: Ein wahrer Mensch zu werden. Und ihr habt alle, jeder von euch, dieses Recht in euch, dieser wunderbare schöne Baum, dieser wunderbare schöne Mensch, in seiner vollkommenen Form zu werden.
Und das Tolle daran ist, ihr müsst überhaupt nichts machen. Ihr braucht keine Bedienungsanleitung, ihr braucht keinen Bauplan, ja! Ihr müsst einfach dieses Wachsen zulassen. Einfach dieses Wachsen in euch zulassen. Und wie geht das?
Auch das ist sehr einfach. Als erstes müsst ihr diese Unzufriedenheit spüren. Dieses Leiden, diese Sehnsucht nach Glück, nach Wachstum, nach Vollkommensein, nach Frieden. Das ist das erste. Und dann kommt der zweite Schritt. Ihr entscheidet euch dafür. Ihr entscheidet euch nicht für einen Kühlschrank für die Fernsehsendung um 20:15 Uhr, ihr entscheidet euch auch nicht für dies oder das, sondern ihr entscheidet euch nur für euch selber. Das wird euch sehr schwer fallen, ich fange bewusst nicht mit der Übung an. Was nützt euch Übung, wenn ihr euch nicht für euch selbst entschieden habt. Dann könnte ihr stundenlang alle möglichen Yoga, Qigong-Übungen machen, Zen-Übungen, ja, ist nett – bringt aber rein gar nichts, ohne die Entscheidung, ein wahrer Mensch zu werden.
Erst die Entscheidung für euch, in dieser Sehnsucht stehen zu bleiben, auch in diesem Leiden stehen zu bleiben, ja, das ist ja noch viel schlimmer, da wollen wir ja weg von. Umso weiter weg ihr aber von diesem Leiden lauft, umso weiter lauft ihr von euch weg und umso schlimmer wird es. Dann, wenn diese Entscheidung da ist, für euch zu sein, euch wachsen zu lassen wie ein Baum mitten in Frühlingssonne, offen, breit und weit, im Wind des Frühlings, dann erst beginnt die Übung.
Nur in diesem Anhalten findet ihr euch
Was ist denn diese Übung? Ist das irgendeine Übung, da mache ich dann irgendetwas. Dann bin ich schon wieder woanders, beschäftige ich mich mal mit irgendwas. Nein ich beschäftige mich mit überhaupt nichts. Mit Zen kann man sich nicht beschäftigen. Man kann auch kein Interesse an Zen haben. Sondern es ist nichts weiter, die Übung ist ein Moment des Anhaltens. Ich halte jetzt an. Dieser Wahnsinn, der mich seit Jahrzehnten treibt, ist nicht die Essenz meines Seins. Aber was ist es dann? Jetzt halte ich an. Weil der Buddha lehrt: Nur in diesem Anhalten findet ihr euch. Nur in diesem Anhalten findet ihr dieses wunderbare Glück, diesen Frieden. Nur in diesem Anhalten werdet ihr zu einem Baum. Groß und breit, der im Sommer Tieren Schatten spendet und in dem wunderbare Vögel nisten werden.
Hinter den Gedanken, hinter den Gefühlen, hinter dem Körperempfindungen, da ist eure wahre Schönheit, euer wahres Herz, Frieden.
Und wenn ihr ganz still seid, dann könnt ihr Liebe spüren. Reine Liebe, ohne zu sollen und müssen, einfach so, nur Liebe. Nur Liebe! Nur Herz! Ihr spürt eure eigene Schönheit, Heiligkeit, wunderbar. Ihr spürt euch selber, den ganzen Körper.
Reine Liebe, ohne zu sollen und zu müssen, einfach so, nur Liebe
Ihr öffnet eure Augen, schaut mal, ist es nicht schön? Das seid ihr. Geräusche, Körperempfindungen, macht doch nichts. Ja, so einfach ist das.
Unser Herz ist der Schlüssel. Es ist das Öffnen für unbedingte, objektfreie Liebe. Ungebunden an Gegenständen, ungebunden an Personen. Wenn Metta, das Mitgefühl, die allumfassende Liebe sich öffnen, bleibt dieses Tor offen. Wenn wir diesen Weg von Herzweisheit weiter betreten, dann wird Metta im Alltag uns mehr und mehr zugänglich. Es durchstrahlt uns mehr und mehr. Es ist wie ein Hintergrund, der unsere Schwächen, die wir als Menschen alle haben, immer haben werden, Gier, Hass, Ablehnung, Verwirrung, Unruhe, Zweifel, Ängste abmildert. Die unheilsamen Kanten, das extreme Überreagieren abmildert.
Herz ist ein Quantensprung, ein Meilenstein auf dem Dharma-Weg, auf unserem Weg zur Freiheit. Das Herz ist unerschütterlich in der Brandung. An unserem Herzen können wir uns orientieren, dann entsteht auf einmal eine eigene, innere Ethik und wir sind nicht mehr angewiesen auf andere Menschen, die sich um Moral und Ideologien streiten, dafür töten und Kriege führen. Wir stehen nicht mehr hilflos davor und sagen: Wie kann das nur sein? Sondern wir entwickeln einen eigenen Maßstab.
Wir brauchen dann keine großen Führer mehr. Das ist der Quantensprung. Wir brauchen keine großen äußerlichen Vorbilder mehr, weil das Große, das Göttliche, das Herz in uns selbst beginnt zu leuchten. Das ist das Wunderbare und darin liegt eine Chance.
Der Weg zur vollkommenen Befreiung ist ein sehr langer Weg. Die Menschheit, wir, benötigen immer mehr Menschen, die aus einem höheren Bewusstsein heraus, und damit meine ich, aus dem Herz heraus, anfangen Dinge zu gestalten und nicht aus den alten Mechanismen, die sehr gefährlich sein können, gerade mit den Möglichkeiten der heutigen Zeit.
Frieden in uns selbst, bedeutet auch Frieden in der Welt
Wie kann unsere Welt Frieden und Harmonie entwickeln, wenn wir in uns keinen Frieden und keine Harmonie haben, das funktioniert nicht. Deshalb entsteht doch dieser Wahnsinn, dass Menschen, wo auf der einen Fahne „Friede“ steht und auf der anderen Fahne steht „Liebe“ und darunter sind Geschütze, wo sich Menschen auseinander schießen. Dadurch entstehen doch diese verrückten Dinge.
Der Schlüssel zu Metta, zu Liebe, zum Herzen ist Selbsterlaubnis, Bereitschaft und Offenheit. Ja, ich darf glücklich sein, ja ich darf lieben. Liebe ist in unserer Gesellschaft konditioniert. Wenn ich klasse aussehe, habe ich viel Erfolg beim anderen Geschlecht, wenn ich nett bin, dann bekomme ich dies und das, dann wird der und der Wunsch erfüllt. Ich liebe Mhmhmhm!
Aber Liebe ist nicht gebunden an irgendetwas. Herz ist wie eine Sonne, die in euch zu scheinen beginnt. Und weil sie in euch, in eurem Zentrum scheint, werdet ihr zuallererst vollkommen von diesem Herz und dieser Liebe durchflutet. Ihr strahlt es nach außen, ihr blickt dann in die Augen eines anderen und gebt diesen Ton weiter. Reagiert in einer Situation vielleicht etwas gemäßigter, nicht frei von Verblendung, sicherlich nicht, ja, wir sind Menschen. Aber zumindest nicht mehr so wie früher, so unheilsam. Es ist ein Weg, wir sind keine Helden. Metta aber ist der Schlüssel für das Zulassen, das Loslassen, für die eigene Hingabe.
Hört auf zu denken, und seid einfach glücklich
Herz bedeutet zu erkennen, dass wir alle, jeder Mensch, wie eine Blume ist, nur die Blüten sind geschlossen. Das ist unser Sein. So werden wir geboren und so sterben wir. Wir wissen nicht, wer wir sind. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Wir haben Konzepte und Bücher, die uns trösten. Herz bedeutet, die innerste Bestimmung, euer Erbrecht als Mensch zu erfüllen und wie eine Blüte, wie eine Blume zu strahlen. Das ist unsere Bestimmung als Mensch. Jeder Mensch ist in seinem tiefsten Wesen voll größter Schönheit, aufgefordert diesem Weg zu folgen. Ein Weg, der jenseits liegt vom logischen Denken. Das meine ich, wenn ich sage: Hört auf zu denken, und seid endlich glücklich.
Und deshalb ist es wichtig anzuhalten. Denn nur in dieser Stille könnt ihr eure Welt in eine neue Form bringen, eine neue Harmonie. Nur in dieser Stille findet Wachstum statt. In dieser Stille kann auf einmal der Baum wachsen. Tief in die Erde verwurzelt breitet er seine Blätter aus und trotzt Stürmen, Hitze und Kälte. Und alle die dran vorbeikommen sagen, was für ein wunderbarer schöner Baum, und bleiben stehen.
Und dann in der Entscheidung die Übung, Meditation in sein Leben zu lassen, dann kann es jeder erfahren: Das Leben ist so ein Geschenk! Es ist so großartig, es lohnt sich anzuhalten und sein Herz zu spüren!
Lasst uns zum Abschluss gemeinsam in diese Tiefe uns fallen lassen.
So grenzenlos wie der Himmel soll mein Erbarmen mit mir selber sein. Möge ich wie eine Sonne für alle Wesen scheinen. Möge ich vollkommen glücklich sein und in Frieden leben und ein Vorbild sein. So grenzenlos wie der Himmel soll mein Erbarmen mit allen fühlenden Wesen sein. Der gelassene Sinn soll frei sein und nicht haften an den Dingen dieser Welt. Gleich wie die Lotosblüte lieblich und unbefleckt sich aus dem Schlamm erhebt, so soll mein meditieren sein. Wenn gleich ich auch in dieser Welt der Täuschung lebe. Mit also gereinigtem Sinn will ich dem Heiligen huldigen. Mögen alle Wesen glücklich sein und in Frieden leben.
Karuna. Liebe wie eine Mutter zu ihrem Kind.
Mudita. Freude wie Frühlingssonne.
Upeka. Gelassenheit wie ein stiller weiter Ozean.
Maitri – Güte!
Karuna – Liebe!
Mudita – Freude!
Upeka – Gelassenheit!
Maitri – Karuna – Mudita – Upeka!